Das Kabinett des Dr. M.


Meine Frau und ich machten vor einiger Zeit Urlaub in Osttirol. Wir wohnten im wunderbaren Hotel Jesacher Hof in St. Jakob im Defereggental.
Das Wetter war an diesem Tag regnerisch, der Wasserstand der Schwarzach hoch, es war nichts mit Fischen und so fragten wir im Hotel nach, was man ansonsten so unternehmen könne, am besten etwas, das mit der Fischerei zu tun hätte.
Christina, die Tochter des Hauses, von der an anderer Stelle schon berichtet worden ist, hatte einen Rat.
Da gäbe es in Lienz ein kleines Museum mit Fischpräparaten, das von dem Herrn M. betrieben würde, dem Schöpfer der bekannten M.-Fliegen. Mir waren weder Fliegen noch ihr Schöpfer bekannt, aber man konnte ja mal sehen.
Christina kündigte uns an, und wir waren willkommen.
Am Nachmittag zur verabredeten Zeit standen wir dann vor besagter Adresse, einem Ladengeschäft. Wie sich später herausstellte, hatten die Ms früher dort eine Reinigung. Wir läuteten und bald darauf erschien eine ältere Dame, Frau M., die uns freundlich begrüßte. Wir waren die einzigen Gäste. 
Als Licht gemacht wurde, eröffneten sich uns Räumlichkeiten vollgestellt mit Vitrinen. Der Art nach geordnet waren unzählige präparierte Fische zu sehen. Frau M. erklärte uns in geradezu weihevoller Art, dass ihr Gatte wohl die meisten selbst gefangen hätte. Einige hätte er verendet am Wasser gefunden.


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Alle Fischarten der Region waren vertreten Fried- wie Raubfische. Alle habe ihr Mann präpariert, wobei man die Fortschritte des Präparators verfolgen konnte.
Überschwänglich lobte sie den Einsatz ihres Mannes, dessen Lebenswerk sozusagen vor uns stünde. Selbst Professoren hätten schon staunend vor den ausgestellten Stücken gestanden!
Meine Frau und mich, wir schauten uns fragend an, beschlich ein merkwürdiges Gefühl. Warum so viele Fische von derselben Art? Hätte nicht jeweils ein besonderes Exemplar gereicht?
Auf Nachfrage versicherte Frau M. uns, hier seien mehr als tausend Fische ausgestellt! Wir überlegten, was in aller Welt diesen Mann dazu gebracht hatte, so viele tote Tiere auszustopfen und zu sammeln!


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Den Herrn über all diese Fische hatten wir aber noch nicht zu Gesicht bekommen. Erst am Ende der Führung wurden wir ihm vorgestellt.
Würdig, um seine Leistung wissend, begrüßte er uns. Es wurden ein paar Worte gewechselt, und mein Blick ging auf die ausgestellte Fliegenmuster - Trockenfliegen wie Nymphen. Ich orderte ein paar Exemplare. Nach dem Preis für die Führung gefragt entgegnete Frau M., ein Obulus für den Erhalt des Lebenswerks ihres Mannes sei willkommen.
Jetzt, wo ich hier sitze und diese Geschichte niederschreibe, beschleicht mich eine bizarre Vorstellung, dass, wenn etwa in 20 Jahren jemand am Ende des Museumsrundgangs anlangt, Herr M. immer noch an seinem Platz sitzt, jetzt aber ausgestopft, alle seine toten Fische zum Leben erwachen und um ihn herumschwimmen.


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Die hier gezeigten Fotos des Museums stammen von „Fischer-Berni“, mit dessen freundlicher Genehmigung ich sie hier zeigen darf.